Hossein Behrouzi (GER)


farsi

Am Anfang war ein Ausruf

Alle Phänomene des Lebens entspringen einem Ausgangspunkt. Meine Jugendjahre fingen dem Anschein nach mit einem Ausruf an:

„Kommt und schaut was unter der Brücke passiert.“

Mit diesem Ausruf, mit dieser Aufforderung zu schauen was sich unter der Brücke ereignete, begann meine, unsere Sturm-und-Drang-Zeit. Wir alle, aus der gleichen Generation stammend, liefen los zur Brücke von Seyed-Khandan und sahen dort etwas, dessen Wirkung wir bis heute nicht vergessen haben. Tausende Menschen demonstrierten auf den Straßen gegen den Schah und dessen Monarchie. Menschenmengen, die meisten noch blutjunge Studenten, waren von der Aghlab-Moschee losgelaufen.

Meine Freunde und ich spielten schon lange mit dem Gedanken, diese Welt zu verändern. Wir verfolgten fortwährend die internationale Presse, die mitreißenden Beiträge über den Vietnamkrieg, die Beatles, die Konzerte von Pink Floyd und die Reaktionen auf den Song „The Wall“. All diese Ereignisse glichen einer Welle nach der wir uns sehnten, um auf ihr mit zu reiten.

Meine Generation, wir waren gerade so im 16. Lebensjahr, diskutierte ständig über Ungerechtigkeit, Unterjochung und die Aggression in dieser Welt. Mit dieser Welle schien es nun, eröffnete sich für uns eine neue Welt mit neuen Chancen. Eine Welt in der es nur von Che Guevaras, Fidel Castros und anderen Partisanen wimmelte, die in den Kampf gegen eine kapitalistische Welt zogen und gezogen waren.

Dieser Aufstand fand am Donnerstag, dem 16 Shahriwar 1357 (7. Juli 1978) statt. Es war quasi die erste öffentliche Demonstration in Teheran und gleichzeitig der Anstoß einer Revolution, welche sich im Jahre 1357 (1978/79) ereignete. Es hatten sich allerdings schon 1356 (1977/78) Proteste in den Städten Esfahan, Tabriz, Mashhad und anderen angebahnt. Wir versuchten die Nachrichten, die wir aus den damaligen Zeitungen entnahmen, aus unserer eigenen Perspektive zu deuten.

Unsere Nächte verbrachten wir während dieser Tage mit dem Radiohören, fortwährend auf der Suche nach den Sendern der Deutschen Welle oder des BBC London, bis wir endlich einen Empfang hatten.
Die Botschaften, die wir über die Demonstrationen und Proteste der Menschen über das Radio vernahmen, flüsterten wir uns am nächsten Morgen zu, mit der gespannten Erwartung auf den Augenblick in der wir, die jungen Partisanen, endlich in Aktion treten konnten. Anscheinend war dieser besagte Tag unser großer Tag. So marschierten wir mit unseren burschikosen Schritten in der großen Menschenflut mit und riefen: „Morgen früh, sieben Uhr, Meydane Jale“.

Am selben Abend berichtete die BBC von den Protesten, an denen meine Freunde und ich teilgenommen hatten. Allein die Tatsache, dass nun die ganze Welt über die Geschehnisse im Iran informiert war erfüllte uns mit Stolz. Der Sender erwähnte in seiner Berichterstattung auch die geplanten Demonstrationen die am nächsten Tag, um sieben Uhr früh stattfinden sollten.
Am nächsten Tag begaben sich meine zwei Freunde und ich auf den Weg zu Meydane-Jale. Wir kamen am Meydane-Fusye an, als das Knallen der ersten Schüsse zu hören war, das Stimmen der Angst in unseren Ohren erweckte.
Wir wussten nicht was sich in unserer Nähe abspielte. Die Soldaten hatten die Straße, dessen Ende zum Platz führte, abgesperrt. Am selben Abend erfuhren wir über die gleichen Radiosender, dass die Soldaten des Schahs die Menschen unter Beschuss genommen hatten; fast zwei Hundert wurden getötet und weitere Tausend verletzt. Die Teheraner Zeitungen schrieben am nächsten Tag lediglich über „Ausschreitungen“ im Zuge einer Demonstration bezüglich der Überteuerungen, bei denen es Verletzte gegeben hätte. Doch die internationalen Radiosender berichteten über dieses Blutbad, über einen Tag, der wegen des Blutvergießens unter dem Namen „Blutiger Freitag“ bedeutend wurde.

Blutbad 7. Juli 1978
Das Blutbad von 7. Juli 1978

Die Verbreitung von Botschaften gelang an diesen Tagen nur über das Radio oder wir schrieben sie auf die Hauswände. Tatsächlich hatten die Mauern die Rolle der Tageszeitungen übernommen. Wir sprayten an jenen Tagen unsere Nachrichten in bunten Farben auf die Wände. Die Mauern der Stadt, jede einzelne, glich einer Zeitungsseite. Wir bemühten uns, die wichtigen Botschaften dicker als Überschriften zu schreiben und die Kurznachrichten darunter. Bedeutsame Informationen gelangten nachts über die Radios zu uns, während sie am Tage die Form bunter Buchstaben annahmen.

Wandbeschriftungen
Wandbeschriftungen während der Revolution

Auch während wir auf den Straßen demonstrierten, informierten wir uns dabei gegenseitig darüber wann und wo am folgenden Tag die nächsten Demonstrationen stattfinden würden. Jeder Einzelne von uns glich einem mobilen Radio, oder anders betrachtet schwebten wir als lose Zeitungsseiten durch die Straßen und verbreiteten die Botschaften.

Die Ereignisse schritten sehr schnell voran. Die Nachrichten wurden von Mund zu Mund weitergegeben. Es gab uns und das Summen des Radios aus denen manchmal übertragene Reden von Khomeini erklang. Wir versuchten diese Reden aufzuschreiben, und mit Druckermaschinen zu vervielfältigen.
Das Band zwischen uns und dem Führer der Revolution waren die Radios. Die Nachrichten, die uns über die Radios mitgeteilt wurden, gaben uns – den aufgewühlten Heranwachsenden – die Hoffnung, dass der Sieg nicht weit mehr weg war. Diese Hoffnung weilte eine lange Zeit in uns bis schließlich der Schah und seine Familie den Iran verließen.

Titelseite
Das Titelbild von „Etelaat-Zeitung“ als der Schah flüchtete

Die unübersehbaren Headlines der Zeitungen an diesem Tag versetzten uns in Ekstase. Nach der Flucht des Schahs erfolgten die Geschehnisse in so rascher Abfolge, sie ereigneten sich so schnell, dass es uns vorkam als wurde die Zeit uns überholen.
Am 19. Bahman 1357 (8. Februar 1979) nahm ich am Jahrestage der „Siahkal“ 1 in der Teheraner Universität teil, als plötzlich die losen Zeitungsblätter, die Menschen die in den letzten Tagen als Zeitungsartikel mit großen Überschriften durch die Straßen streiften, die Nachricht verbreiteten, dass die Homafaran 2 am Fusiye-Platz Unruhe stifteten. Wir konnten von keinem Radio oder Fernseher, keiner Presse, von überhaupt gar keiner Quelle eine Bestätigung dieser Randale erhalten. Es waren die Schilderungen, das Gehörte und das Gesagte, die uns alle zwangen sich auf dem schnellsten Wege zum Fusiye-Platz zu begeben.

Der Angriff war eröffnet worden, der Widerhall der Schüsse wurde nicht mal für Sekunden unterbrochen. Wir liefen aufgeregt in Richtung des Hauptsitzes der Luftstreitkräfte, die sich in der Nähe des Platzes befand. Als wir in Reichweite des Hauptsitzes waren begegneten wir dem ersten bewaffneten Homafaran, der uns mitteilte, dass sich die Homafaran dem Volk angeschlossen haben. Meine Freunde und ich, die wir nun Tage und Monate auf ein Waffe gehofft hatten, um uns in einen Che Guevara zu verwandeln und Geschichte zu schreiben, verbrachten die folgenden Nächte schlaflos auf den Straßen bis zum 22. Bahman (11. Februar 1979). Bis zu jenem Tag an dem wir den Sieg der Revolution bejubelten.

Spiegel Titelseiten 1979
„Der Spiegel“ am 12. Februar 1979

Wir hatten gesiegt wegen des Nichtwollens … wir wollten nicht…. wir wollten die Schahfamilie der Pahlavis und die Monarchie nicht und es war dieses Nicht-Haben-Wollen“, welches uns – ohne zu wissen was wir eigentlich wollten – zum Sieg führte.

Spiegel Titelseiten 1979
1979 widmeten sich alleine sechs Covers von „Der Spiegel“ den Ereignissen im Iran

Nach dem 22. Bahman (11. Februar) war die Verbreitung von Nachrichten sehr einfach. Die Zeitungsstände waren voll von unterschiedlichen Tageszeitungen und Illustrierten. Die politischen Gruppierungen waren mit dem Druck eigener Zeitschriften für die Eigenwerbung sowie Pressearbeit beschäftigt. Wir hörten nicht mehr BBC oder ausländische Radiosender. Wir machten die Nächte nicht mehr mit dem Summen von Radiofrequenzen zum Tage. Die Freiheit grünte im gesamten Land. Der Staat war voll von Nachrichten. Die Nachrichten über die Gerichte der Revolution, die Nachrichten über die Besitznahmen von Privatvermögen, die Nachrichten über die Hinrichtungen hoch dekorierter Offiziere des Schahs, die Nachrichten von Demonstrationen sowie die Nachricht über die Wahlen für die „Islamische Revolution“, welche am 12. Farwardin 1358 (1. April 1979) stattfand.

Zeitungsausschnitt Keyhan
Ein Ausschnitt aus der iranischen Zeitung Keyhan aus jenen ersten Tagen der „Islamischen Revolution“

Die Stadt war voll mit politischen Zeitungen und ehemals verbotenen Bücher. Auf den Straßen versammelten sich die Menschen zu kleinen Gruppen und diskutierten mit einander. Im Jahr 1358 (1979) war die Stadt mit der Luft des Friedens gefüllt.

Doch plötzlich stürmten Gegner der politischen Gruppierungen, die bekannt waren als Schlägertrupps, die politischen Versammlungen. Am Ende des Jahres, ganz heimlich und still, ohne dass es irgendwer bemerkte, breitete sich Aggressivität und eine Art von Umbildung im Volk aus. Der dreimonatige Kampf in Kurdistan, die Ermordung der kurdischen Führer, die Angriffe auf die turkmenischen Anführer sowie die regelmäßigen und ausgedehnten Übergriffe auf Demonstrationen diverser politischer Gruppen häuften sich.

Pulitzerpreis
Exekution in Kurdistan (Sanandaj Flugfeld) am 27. August 1979 3

Am 13. Aban 1358 (4. November 1979) wurde die US-amerikanische Botschaft im Iran von Studenten besetzt. In ganz Teheran drehten sich nun die Nachrichten über die Geiselnahmen der US-Diplomaten und US-Soldaten und machten mittel Mundpropaganda ihre Runden. In diesen Wochen versammelten sich Menschen vor der US-Botschaft, um mit ihren Kundgebungen ihre Solidarität mit den iranischen Studenten zu bekunden.

Geiselnahme US-Botschaft
Geiselnahme in der US-amerikanischen Botschaft in Teheran

Die Besetzung der US-amerikanischen Botschaft war an diesem Tag die wichtigste Nachricht weltweit. Die ersten Beiträge der Medien beinhalteten die Interpretation internationaler Politiker über das Geschehen. Die Titelseiten der internationalen Presse bezogen sich auf die amerikanisch-iranischen Beziehungen.

Internationale Titelbilder
Titelbilder der internationalen Presse

Wir, das junge Volk, waren so vom Sieg der Revolution aufgewühlt, dass wir glaubten den richtigen Weg für die Veränderung der Welt eingeschlagen zu haben. Wir waren dermaßen aufgeregt, dass wir die leisen Schritte der Diktatur nicht wahrnahmen. Selbst als der Krieg mit dem Nachbarstaat Irak begann, sahen wir nichts weiter als die Feindseligkeit des Iraks gegen unsere Bestrebung, die Welt durch freiheitliches Denken zu ändern. So bereiteten wir uns auf die Verteidigung des Vaterlandes vor und waren gewillt alles für dieses Ziel herzugeben. Während der ersten Tage füllten sich die Radiosender und die Presse mit ergreifenden Kriegsnachrichten. Der Feind konnte ohne Anstrengung in die iranischen Grenzgebiete eindringen.

Die Interpretationen der politischen Parteien vom Krieg unterschieden sich sehr. Die Armee bereitete sich auf den Kampf vor, auch die selbst organisierten Gruppierungen der Stadtgemeinden, die sich zu Beginn der Revolution zusammengefunden hatten, standen bereit. Der irakisch-iranische Krieg zog sich von Shahriwar 1359 bis Mordad 1367 (September 1980 bis August 1988), lange Jahre, die viele Veränderungen mit sich brachten.

Iran-Irak-Krieg
Der achtjährige Iran-Irak-Krieg

Eine dieser Veränderungen ereignete sich im Jahr 1360 (1981), mit dem Verbot der politischen Parteien sowie deren Aktivitäten im Iran. Eine weitere Änderung in diesem Jahr betraf die Einführung des Gesetzes zur verpflichtenden Verschleierung der Frau. Zu dieser Zeit wurde das Fundament der Unterdrückung gelegt, es war der Ausgangspunkt der Zensur und der Einengung der Meinungsfreiheit.
Der Krieg war ein Vorwand der Regierung, um gegen die Opposition vorzugehen. Im Sommer 1360 (1981) begannen angeordnete Angriffe auf die Andersdenkenden, bei denen viele junge Menschen in Haft kamen.
Die Gefängnisse Evin, Gheselhsar, Gheselghale waren wieder überfüllt von jungen Frauen und Männern, die sich für die Freiheit einsetzten. Die Universitäten schlossen aufgrund einer kulturellen Revolution. All diese Ereignisse bewirkten die Flucht vieler tausender Menschen ins Ausland. Es lässt sich ohne weiteres behaupten, dass die 1360-er Jahre (1981-1991) der schwärzeste Zeitabschnitt, sowohl politisch als auch gesellschaftlich, für die Iraner waren. Im Sommer 1367 (1988), nachdem der Friedensvertrag mit dem Irak unterzeichnet war, exekutierte und vergrub das Regime 4 Tausende Gefangene, die jahrelang hinter Gitter gesessen waren, in Massengräbern auf dem Khavaran-Friedhof im Südosten Teherans.

Massenmord Khavaran
Ein Opfer des Massenmordens 1988

In diesen Tagen verlor ich viele Freunde im Krieg oder in den Gefängnissen oder durch ihre Flucht ins Ausland. Ich dachte darüber nach, was in den letzten 10 Jahren meinem Heimatland widerfahren war. Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und der Niedergeschlagenheit bereitete sich in meinem Inneren aus. Zwischen dem was meine Gleichgesinnten und ich anstrebt hatten und dem, was nun in Wirklichkeit passiert war, bestand ein kolossaler Unterschied.
In diesen Jahren gelangte ich zu der Erkenntnis, nicht mehr hinter politischen Bewegungen her zu eifern, sondern mich der Kunst zu widmen. Auf diesem Weg wollte ich von nun an meine Gedanken an meine Mitmenschen weitergeben. Ich begann in diesem Jahr damit, mich ernsthaft mit dem Theater und dem Schreiben von Drehbüchern zu beschäftigen, welches ich bis heute noch tatkräftig fortführe.

Von der Politik mit Wunden übersät, verbrachten wir nun unseren Alltag mit Hoffnungslosigkeit und vernahmen die lähmenden Berichte der Massenexekutionen. In den 1370er-Jahren (1991-2001) war keine Spur mehr von den politischen Gruppierungen zu finden. Nun hatte es die Regierung auf die Intellektuellen abgesehen. Somit begann eine weitere Welle der Unterdrückung. An der Spitze der Verfolgten standen Schriftsteller und Journalisten. Ein Bus, dessen Fahrgäste einige Autoren waren, verunglückte auf rätselhafte Weise. Und auf die ähnliche rätselhafte Weise fanden Mohamad Jafar Pouyande, Mohamad Mokhtare, Darush und Parvane Fouruhar, Ebrahim Salsade sowie viele andere in den 1370er-Jahren (1991-2001) den Tod. Diese mysteriösen Ermordungen wurden nie aufgeklärt. Im Jahre 1374 (ca. 1995), in einer Zeit der Unterdrückung und Bekämpfung von Journalisten, verließ ich, selbst Redaktionsleiter einer Zeitung, den Iran um mich in einem europäischen Land niederzulassen.

Für mich begann die Zeit des Exils und im Exil begriff ich erst dass die Welt, in historischen Abständen immer wieder aus Eigennutz ein Auge auf mein Heimatland geworfen hatte und auch der Blick der Medien aus gefilterten Nachrichten bestand. In den kommenden Jahren richtete sich der Blick der Welt auf die Zusammenführung von Ost- und West-Deutschland. Überall war die Rede von der Europäischen Gemeinschaft und dessen Wirkung auf die Weltwirtschaft. Aber kein Radio- und kein Fernsehsender berichtete über den Iran, der unter dem Druck der Diktatur zu erstickten drohte.
Gerade in den 60 Jahren in welchen sich so viele unglückliche Ereignisse im Iran ereignet haben, blieb die Weltpresse in Bezug auf den Iran uninteressiert. Keine Medienquelle berichtete über die Massenexekutionen von 1367 (1988) oder die Kettenermordungen 5. Der Iran war nur noch in Verbindung mit dem Namen „Khomeini“ 6 bekannt, ein Mann der schon einige Jahre zuvor verstorben war.

In den ersten Jahren meines Aufenthaltes in Europa waren Briefe von Freunden meine einzige Informationsquelle über das was sich im Iran wirklich ereignete. Damals hatte das Internet noch nicht die weiten Distanzen aufgehoben und in den Medien waren auch keine informativen Berichte über die Ereignisse im Iran zu finden.
Ich spazierte durch die Straßen und sah Menschen, die auf dem Höhepunkt ihrer Freiheit, Selbstbestimmung und ohne Aggression lebten ohne zu wissen, dass in einer Ecke dieser Welt Menschen unter dem Druck von Peiniger nicht mal ein Selbstbestimmungsrecht über ihre Kleiderwahl haben. Die Briefe, die ich aus dem Iran bekam, waren meine einzige Brücke zu einer Gesellschaft der ich meine ganze Jugend gewidmet hatte, um den Duft der Freiheit zu verspüren. Ich las die Briefe, schloss meine Augen, malte mir die Straßen meiner Stadt bildlich aus und versuchte die Stimmung meines Volkes in meinen Vorstellungen nachzuempfinden.

Ohne Zweifel waren die 1990-er Jahre die Zeit der Kommunikationsmittel. Die Welt war auf dem Weg zu einer Internet-Revolution, um mit diversen elektronischen Geräten die Hindernisse der Kommunikation aufzuheben. Die zwischenmenschlichen Beziehungen und der Kommunikationsfluss wurden von nun an schneller und einfacher. Das Handy, das Internet, Faxgeräte nahmen im Leben der Menschen einen besonderen Platz ein. Während noch vor einiger Zeit die Gespräche, um den Kalten Krieg handelten, war das Gesprächsthema Nummer eins nun der rasante Kommunikationsfluss und die Verbreitung von Informationen. Die Weltmächte versuchten in diesem Kampf stärker und schneller zu agieren. Die Flut von Nachrichten strömte, die Menschen, ihr Dasein und die Lebensumstände waren von nun an der Grundstoff der Medienwelt.
Der Nutzen für mich und meinesgleichen aus diesem mächtigen Gefecht der Medien war nun dass wir nicht mehr abhängig waren von den Briefen, die uns geschrieben wurden. Das Internet verband uns mit der Heimat. Wir lasen und schrieben Blogs, wir schreiben und lesen Internetseiten und durch das Versenden von Emails waren wir immer und zu jeder Zeit über unsere Freunde sowie ihr Wohlbefinden informiert.

Die große Bedeutung und Aussagekraft dieser Verbindung zeigte sich im Zeitraum der Wahlen von 2009. Tatsächlich waren diese Ereignisse ein Zeichen für die Folgen der Internet-Revolution. Die Menschen die mit ihren Handys die Geschehnisse vor und nach der Wahl filmten, auf Youtube veröffentlichten, wollten ihre Freude und ihr Leid ihren Mitmenschen übermitteln. Die Veröffentlichung der Nachrichten nahm eine so gewaltige Position ein, dass die in Vergessenheit geratenen und von der Weltpresse unbeachteten Menschen nun selbst eine Medienquelle bildeten und von nun an selbst Berichterstatter der Zeitungen sowie Fernsehanstalten geworden waren.

Wahl
Vor und nach den Wahlen von 1388

Ich, der in der Jugend mit einem Ausruf in eine Welle mit hineingezogen wurde und jahrelang mit wogte, bin nun aus der Entfernung Zeuge einer neuen Bewegung der Menschen meines Heimatlandes. Dieses Mal schritt ich nicht Schulter an Schulter und durchquerte nicht Schritt für Schritt die Straßen mit ihnen, sondern verfolgte von Weiten das Geschehen. Meine einzige Verbindung zur dieser Bewegung waren die Internetseiten von Twitter, Youtube und Facebook.

Vor den Wahlen herrschte so viel Aufregung, Spannung, soviel Glücksgefühl und Freude, die auch mich ansteckte. Ich hatte all die schweren Zeiten aus meinem Gedächtnis verdrängt, die Zeiten voll von Gefängnis, Verhör und Unterdrückung. All die Jahre, in der ein Redakteur für das Schreiben einer simplen Überschrift einer Zeitung, eine Genehmigung zum Schutze der Islamischen Republik einholen musste, gerieten langsam, langsam bei mir in Vergessenheit.

Diese Wahlen unterschieden sich zu den Wahlen der vergangenen Jahre erheblich. Es hatte eine moderne Form angenommen. Alle Kandidaten verwendeten Internetseiten für die eigene Werbekampagne. Farben bekamen bei den Wahlen eine besondere Bedeutung.
Die grüne Farbe stand für neue Reformen. Nach 30 Jahren fanden bei den Wahlen TV-Duells statt. Zum ersten Mal nahmen die Medien im Iran eine besondere und wichtige Stellung ein. Diese nahmen eine Stellung ein, welche sich schon in der Welt bewiesen hatte. Ich verglich unbewusst meine jetzige Aufregung mit der aus der Zeit des Jahres 1357 (1979). Für die Übermittlung und das Erhalten von Nachrichten bedurfte es nicht mehr Hausfassaden oder das Drucken von nächtlichen Flugblättern. Die kleinste Nachricht wurde über das Internet, per Mail oder auf Facebook verbreitet.
Sekunde für Sekunde verfolgten wir die Nachrichten im Internet und selbst die letzten Statistiken des iranischen Innenministeriums bekamen wir Sekunde für Sekunde mit. So wie auch den Schock, der dem Volk widerfuhr, vor dem ich erschauerte. Ich war trotz der weiten Ferne in gleichem Maße überwältigt.

Die Tage nach den Wahlen 2009 waren unvergessliche. Auf der einen Seite betrachtete ich Menschen, die in Europa in Ruhe und Frieden lebten, und auf der anderen Seite die Menschen meiner Heimat, die wegen der verlorenen Stimmen 7 aufschrien. Die Nachrichten über die Demonstrationen und Widerstände der Menschen verfolgte ich weiterhin auf Twitter und Facebook. Zum einen bewunderte ich die Auffassungskraft der Menschen, die auf ihre Wahl bestanden und dennoch in Ruhe protestierten, zum anderen erfüllte mich das Nichtbeachten dieser Menschen seitens der Regierung mit Wut. Es gab einen Unterschied zwischen mir und meiner Generation von 1357 (1979) und den jungen Menschen die 1388 (2009) auf die Straße zogen, protestierten und auf ihre Freiheit pochten. Wir wollten wie Partisanen bewaffnet die Welt verändern, während diese Menschen verbal und mit friedlichen Mitteln ihr Ziel zu erreichten versuchten. Sie zeigten, dass der Verstand und das Moderne in ihrem Leben die erste Geige spielt. Sie veranschaulichten, dass die Zeit der bewaffneten Kämpfe und des „Lebe oder Stirb“ vorüber war.

All die Ereignisse haben die Widerstandskämpfer mit ihren Handys festgehalten und diese so schnell wie möglich ihrer Außen-Welt übermittelt.

Während die Anwesenheit ausländischer Journalisten im Iran nicht erwünscht war, haben alle Nachrichtenkanäle der Welt diese Bilder und Blogs verwendet, um über den Iran und die Geschehnisse zu berichten. Viele veröffentlichte Bilder in der Weltpresse wurden über diesen Weg erworben.

weltbewegend
Ein kleiner Ausschnitt jener Bilder, bei dessen Anblick die Welt sich ein wenig bewegte

Nun sind 30 Jahren von dem Tag an, als ich, ein Jugendlicher, einen Ausruf hörte und so schnell wie mich meine Beine tragen konnten, auf die Straßen liefen, vergangen. 30 Jahre, die meinem Land manches an Höhen und Tiefen brachten. Nach 30 Jahren habe ich mit dem Augenmerk auf die Geschehnisse erkannt, dass der Verlauf der Zeit ein guter Ratgeber ist. Es besteht gar kein Zweifel, dass in den 30 Jahren sich die Welt verändert hat, die Welt der Medien mit Schnelligkeit fortschreitet und die Veröffentlichung von Nachrichten keine Grenzen mehr kennt. Kein Mensch und keine Regierung kann ein Hindernis für das Übermitteln von Nachrichten werden. Die Grenzen der Berichterstattung sind verschwunden. Die „Grüne Bewegung“ zeigt im Iran, dass es nicht möglich ist, die Verbreitung von Informationen zu stoppen. Die Jugendlichen, die auf die Straßen gingen, friedlich nach Freiheit schrien und nach Ihren Wahlstimmen suchten, wurden selbst zu Berichterstattern und Medienquellen. Sie saßen jeden Augenblick vor dem Bildschirm und übermittelten über Twitter oder andere Wege ihre Botschaften in die Außenwelt.

Nach so vielen Jahren und nachdem was sich im Iran ereignete und noch ereignet, erkenne ich nun, dass das junge Volk meines Heimatlandes auf einfachstem Wege bewiesen hat, dass in diesem Zeitalter jeder Einzelne ein Journalist sein kann. Es gibt keine kommunikativen Grenzen mehr zwischen den Menschen. Keine Regierung kann mehr seine Grenzen vor Journalisten schließen und die Rufe nach Forderung von Freiheit nicht eindämmen.
Wenn ich in die Vergangenheit blicke und mein Leben betrachte, beobachte ich, dass das Fragenstellen in meinem Leben, während meiner Jugendzeit mit einem Ausruf begann. Der Ausruf, der mich auf die Straßen zog, um einstimmig mit den Menschen nach Freiheit zu fordern.

Der jetzige Ausruf der iranischen Jugend aber lehrt mich, dass bei der richtigen Benutzung von Kommunikationsmitteln derartige Ausrufe nicht mehr erforderlich sind.

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1 Am 8. Februar 1971 überfielen Mitglieder der Organisation der Volksfedayin ein Polizeirevier in der Ortschaft Siakhal, um verhaftete Kameraden zu befreien. Dieser Angriff, bei dem drei Polizeibeamte den Tod fanden, wurde als der Beginn der bewaffneten Widerstandsbewegung gegen den damaligen Schah Mohammed Reza Pahlavi gesehen (Anmerkung des Übersetzers).
2 Homafaran war eine größere Gruppe niederrangiger Offiziere und Soldaten innerhalb der Luftwaffe sowie Armee des Schahs (Anmerkung des Übersetzers)
3 Dieses Foto aus einer Serie wurde am kommenden Tag in der Zeitung Ettela’at veröffentlicht und gewann 1980 als einziges je anonymes Foto den Pulitzerpreis. Erst viel später wurde Jahangir Razmi als Fotograf der Bilder bekannt (vgl. http://online.wsj.com/) (Anmerkung des Übersetzers)
4 Diese Massenhinrichtungen, welche sich ab 19. Juli 1988 über rund 5 Monate hinzogen, ereigneten sich unter der Regierung von Mir Houssein Moussavi (Anmerkung des Übersetzers).
5 „Kettenmorde“ war der Begriff, der sich für jene jahrlange Serie von Morden bzw. „Unglücksfällen“ an iranischen Oppositionellen in den 1990er-Jahren, eingebürgert hat. Er geht darauf zurück, dass die ersten Opfer erdrosselt aufgefunden wurden (Anmerkung des Übersetzers).
6 Khomeini, mit vollem Namen Ruhollah Musavi Chomeini, starb 87-jährig am 3. Juni 1989 in Teheran (Anmerkung des Übersetzers)
7 Achmadinejad´s Wiederwahl zum iranischen Präsidenten am 12. Juni 2009 wird vom „Green Movement“ und vielen Beobachtern als Wahlbetrug interpretiert. Als Sieger der Wahlen sah sich Mir Houssein Moussavi . Dies löste die blutigen Proteste mit Millionen Demonstrierenden aus und zum Slogan „Where is may vote?“ (Anmerkung des Übersetzers).

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Hossein Behrouzi, Deutschland

Im Jahr 1960 in Teheran geboren und dort aufgewachsen hat er dort die ersten Tage der „Islamischen Revolution“ hautnah miterlebt. Im Iran über Jahre hinweg als Journalist tätig und dabei wiederholt staatlichen Repressalien ausgesetzt. Nach den Massakern des Sommers 1988 Umzug nach Europa. Heute arbeitet und lebt Behrouzi als Autor in Deutschland.

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